1. Rang: «Auf der Fährte der Sandmöwe» von Anne-Sophie Gröger

1. Rang: «Auf der Fährte der Sandmöwe» von Anne-Sophie Gröger
Patrick Gsell 18.08.2022

Auf der Fährte der Sandmöwe

von Anne-Sophie Gröger

Bäume rasten im Dämmerlicht an den Heimkehrenden vorbei, Sand rieselte aus ihrer Kleidung auf den noch warmen Asphalt. Beflügelt dachte Nadja an den Strandtag mit der Clique zurück. Doch nun, in der sich ankündigenden Dunkelheit, auf dieser unglückseligen Strasse zog sich ihr Herz wieder enger zusammen.

Dabei würde Nico wollen, dass sie das Leben genossen, so sagten die anderen. Ja, Nico hätte gewollt, dass Nadja mit allen einen erfüllten Strandtag verbrachte, wie früher. Dass sie schwimmen ging, herumalberte, sich sonnte und spät abends auf dem Rücksitz von Milads Roller zurück in die Stadt fuhr. Das hätte er.

Hätte er das?

Milads Hände umschlossen fest den Lenker, die Lederjacke spannte sich über seinem Kreuz, der Fahrtwind zerzauste seine dunklen Locken. Nadja hielt sich an ihm fest und blickte bang an seiner Schulter vorbei auf die Strasse. Sie zählte die Kurven. Drei noch. Zwei. Und dann kam er in Sicht. Der Baum. Nadja klammerte sich fester an Milad. Der fuhr ohne das Tempo zu drosseln weiter um die nächste Kurve, vorbei. Weiter. Vorbei.

Zwei Jahre war es nun her, zwei verdammte Jahre! Wie schnell konnte die Zeit vergehen? Nadja erinnerte sich an den Abend als sei er gestern gewesen.

Die Sonne war damals schon untergegangen, ein Feuer brannte am Strand. Sie trug Nicos Jacke und stand mit ihm etwas abseits von den anderen. Machte irgendeinen albernen Witz und wunderte sich, dass Nico nicht wie gewohnt darüber lachte. Er blickte sie bloss an. Die dunkelblonden Haare hingen ihm in die Stirn, seine Grübchen waren blasser als sonst. Und dann sagte er die drei verhängnisvollen Worte.

Tränen rollten über Nadjas Wangen, bis der Fahrtwind sie ihnen entriss. Was hätte sie erwidern sollen? Dass sie hoffnungslos in Milad verliebt war? Bis heute wusste das niemand, nicht einmal Milad selbst und das ging ja auch nicht. Nicht mehr. Wie sollte es gehen? War doch diese heimliche Zuneigung einer der Gründe gewesen für ihre fatale Sprachlosigkeit! Sie hatte Nico geliebt, wenn auch auf eine andere Weise. Nico, dem die dunkelblonden Haare ständig ins Gesicht hingen. Nico mit seinem subtilen Humor, der stille Beobachter, der stets die treffenden Worte fand. Sie hätte ihn in diesem Zustand nicht fahren lassen dürfen!

Sie hatte nichts erwidert. Und er hatte verstanden. Hatte sich umgedreht und war gegangen. Sie hätte ihn aufhalten müssen! Und jetzt? Jetzt konnte sie ihn nicht mehr aufhalten. Sie konnte ihn nicht aufhalten! Sie konnte ihn nicht zurückholen!

„Fuuuuuuuuuuuuuuuck!!!“, brüllte Nadja und ihre Stimme hallte im Wald wider. Milad fuhr besonders eng um die nächste Kurve. Schmerzensschwer trieben sie über die menschenleere Strasse, trieben dahin. Weiter. Weiter.

Doch dann holte Nadjas Körper sie erbarmungslos in den Moment zurück: Da war es, das vertraute warme Gefühl im Schritt.

So ein Mist! Weshalb hatte sie den Tampon nicht schon am Strand gewechselt!?

Ach ja, diese sandfarbene Möwe hatte sie alle abgelenkt! Und sich dann nicht fotografieren lassen. Sandfarbene Möwen... Gab es so etwas überhaupt? Wahrscheinlich waren sie durch das Dämmerlicht getäuscht worden.

„Halt mal an“, rief Nadja Milad ins Ohr. „Ich lauf‘ aus.“

Milad drosselte die Geschwindigkeit und kam am Waldrand zum Stehen. Nadja wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln und schlug sich ins Gebüsch. Nach der gewohnten Prozedur sah sie sich um. Wie lange ein blutiger Tampon wohl brauchte, bis er sich biologisch abgebaut hatte?

„Siehst du hier irgendwo einen Mülleimer?“, rief sie.

„Wir sind mitten im Wald“, kommentierte Milad ihre Frage.

„Achso, deshalb sind hier so viele Bäume“, gab Nadja lakonisch zurück und stapfte über die herumliegenden Äste. Kurz vor Milad blieb sie stehen.

„Hast du Taschentücher?“

Hatte er. Mit dem Ersten schnäuzte Nadja ihre Nase, mit dem Zweiten wickelte sie den alten Tampon zu einem warmen weichen Päckchen zusammen. Sie wollte gerade aufbrechen, als Milad sie anstupste.

„Sieh mal“, meinte er und nickte in Richtung des Waldes. Nadja folgte seinem Blick. Ein schwach leuchtender Punkt schimmerte zwischen den Bäumen.

„Was ist das? Eine Waldhütte?“, fragte sie zweifelnd.

Milad blickte sie ernst an, doch seine Lippen umspielte ein schalkhaftes Lächeln. „Vielleicht haben die ja einen Mülleimer...“

Nadja hob überrascht die Brauen. Was für eine absurde Idee! „Vielleicht...“, entgegnete sie herausfordernd.

Vergeblich versuchten sie sich leise auf dem von knackenden Zweigen übersäten Waldboden an das grösser werdende Licht heranzupirschen. Tatsächlich kam eine winzige Hütte in Sicht, beleuchtet von einer hüfthohen Solarlaterne. Mit klopfenden Herzen blieben sie stehen.

„Meinst du, es ist jemand drin?“, raunte Milad.

Die einzige Fensterscheibe der Hütte spiegelte blind die Umgebung.

„Komm“, flüsterte Nadja und trat hinter den Bäumen hervor. Milad folgte zögernd und sah sich dabei bedächtig nach allen Seiten um.

Nadja lugte durchs Fenster. Der Innenraum der Hütte war spartanisch eingerichtet: Eine Isomatte auf einem Surfbrett, daneben ein Holzblock, auf dem ein Strauss Federn drapiert war sowie eine leere Thunfischdose. Niemand war zu entdecken. Da ertönte Milads Stimme:

„Hier drüben!“

Nadja schlich um die Hütte herum. Und tatsächlich hatte Milad einen Treteimer gefunden. Sie zögerte.

„Was meinst du, wer hier wohnt?“, fragte sie.

Milad warf einen prüfenden Blick in den Mülleimer, der von leeren Thunfischdosen und Pommes-Frites-Tüten überquoll.

„Ich würde auf eine Möwe tippen“, entgegnete er todernst. Ihr gefiel der Gedanke.

„Eine verzauberte Möwe, die nachts dazu verflucht ist, ein Mensch zu sein“, raunte sie.

„Du meinst ein Mensch, der nachts eine Möwe sein muss“, lachte Milad.

Doch Nadja schüttelte den Kopf.

„Möwen können fliegen.“

Milad musterte sie lächelnd. Eine Weile standen sie nur da und sahen sich an. In dem Dämmerlicht verschwanden seine braunen Augen zwischen den dichten Wimpern.

„Wir sollten die Menschenmöwe nicht verärgern“, beschloss Nadja und schloss ihre Hand fester um das Zellophanpäckchen. „Bestimmt will sie unentdeckt bleiben.“

Milad nickte langsam. Wie lange kannten sie sich jetzt?

Milad war etwas später zu der Clique hinzugestossen, in der fünften Klasse. Schon damals hatte sie ihn toll gefunden, vielleicht, weil er jeden zum Lachen brachte, vielleicht wegen seines Waveboards, vor allem aber, weil ihn nichts und niemand aus der Ruhe bringen konnte.

„Tu es in eine Pommestüte, dann merkt sie es nicht“, meinte er.

Nadja schmunzelte. Sie entschied sich für eine leere Thunfischdose. „Tampon au l’huile!“, scherzte Milad.

Ein Möwenruf erklang.

„Lass uns nochmal über das Meer blicken!“, schlug Nadja vor.

Der dämmrige Himmel leuchtete schon bald zwischen den Baumstämmen hindurch. Hinter den Letzten klaffte ein Steilhang und dahinter breitete sich das Meer vor ihnen aus wie ein riesiger roségoldener Spiegel. Winzig klein blitzten hier und da weisse Schaumkronen auf und vergingen wieder. Ergriffen von diesem gewaltigen Ausblick, verharrten sie am Abgrund. Nadja war es, als könnte sie Milads Herz klopfen hören. Dort stand er mit seinen verbeulten Jeans, der schwarzen Lederjacke und den zerzausten Haaren, blickte auf das Meer. Und weinte. Nadja nahm seine Hand. Ein Kribbeln schoss durch ihre Glieder, so erschreckend schön, dass sie sich betroffen anblickten. Über ihnen schwebte eine Möwe im Wind. Und dann, wie von äusseren Kräften bewegt, fanden sie zusammen, bis sie dicht voreinander standen. Nadja wischte Milad eine Träne von der Wange. Seine Stirn berührte die ihre. Und Nadja wusste plötzlich, dass es ging. Dass sie Nico kein Unrecht damit tat. Und küsste ihn.

Die Möwe kreiste über ihren Köpfen. Sie verharrte noch einen Moment in der Schwebe und flog dann schwungvoll und in einem weiten Bogen aufs offene Meer hinaus.

 

Vier Fragen an die Autorin

Liebe Anne-Sophie, herzlichen Glückwunsch zu deinem Text und zum 1. Platz! Was hat dich dazu bewogen, am Kurzgeschichten-Wettbewerb zum Thema «Menstruation» teilzunehmen?

Mir hat der Anspruch der Wettbewerbsveranstalter*innen das Thema Menstruation in der Literatur zu enttabuisieren sofort zugesagt. Momentan beschäftige ich mich mit den verschiedenen Zyklusphasen Menstruierender und finde es unglaublich, wie sehr sich meine Lebensqualität durch die Auseinandersetzung hiermit und das offene Sprechen hierüber verbessert. Auch andere Themen wie PMS sollten meiner Ansicht nach viel sichtbarer gemacht und das Thema Menstruation insgesamt normalisiert werden.

Was hat dich zu deinem Text inspiriert?

Mich interessieren mysteriöse und abenteuerliche Erzählungen sowie menschliche Beziehungen sehr und ursprünglich schickte ich Nadja und Milad in einen Krimi. An irgendeiner Stelle sind wir dann anders abgebogen.

Du hast die Menstruation in deinem Text elegant eingebaut: Beiläufig und unkompliziert und doch ist sie ein Wendepunkt, an dem deine Figuren spontan von ihrem vorherigen Weg abweichen. Hattest du den Ablauf von Anfang an so im Kopf?

Tatsächlich entspann sich die Kurzgeschichte nach und nach um den Dreh- und Angelpunkt des Tamponwechsels. Diesen entschied ich von Anfang an als Bruchstelle, als ungeplanten Stopp, durch welchen die Protagonist*innen in eine Umgebung gelangen, die sie sonst nie aufgesucht hätten. Letztendlich bin ich gemeinsam mit ihnen auf diese Reise gegangen ohne zu wissen, wo wir am Ende ankommen.
 

Denkst du, dass Texte wie dieser die Wahrnehmung der Menstruation in der Gesellschaft beeinflussen können?

Auf jeden Fall. Sowohl Literatur als auch Musik, Film und alle anderen Künste tragen dazu bei wie wir unsere Erfahrungen verstehen, einordnen, reflektieren, davon bin ich überzeugt. Wir haben als Autor*innen hierbei die Möglichkeit an den von der Gesellschaft geformten Erzählungen zu arbeiten, sie zu spiegeln, zu verformen und zu brechen und zeigen immer einen bestimmten Blickwinkel auf die Welt. Die Erweiterung von Erzählweisen über Menstruation trägt auch zur Erweiterung der Wahrnehmungsmöglichkeiten dieser bei.


Gefällt dir die Geschichte? Dann lass doch einen Kommentar für unsere Autorin da!

Zurück zum Blog

Kommentare

Eve schrieb am 19.08.2022 um 22:04 Uhr
Eine wahre Gewinnerin!
Herzlichen Glückwunsch. Es war berührend, in deine Geschichte einzutauchen.
Hugo Berger schrieb am 19.08.2022 um 12:17 Uhr
Ohne Neid: Die Geschichte ist sehr gut
Habe selbst am Wettbewerb teilgenommen. (Mein Titel: Wegen Menstruation geschlossen) Bin zwar etwas enttäuscht, dass meine Geschichte nicht berücksichtigt wurde, muss aber zugeben, dass die Siegergeschichte den 1. Platz verdient. Gratulation!
Kerstin schrieb am 19.08.2022 um 11:32 Uhr
Berührend
Herzlichen Glückwunsch zum 1. Platz. Die Geschichte ist es mehr als wert.
Malina schrieb am 19.08.2022 um 11:18 Uhr
Ohne Wertung
Was für ein schöner Text <3 Ich liebe einfach, wie er ihre Periode in keinster Weise kommentiert, wie das Thema einfach da ist, ohne irgendeine Form der Wertung zu bekommen. Und trotzdem die Müllsuche alles entscheidend ist :-)
Iris schrieb am 19.08.2022 um 11:12 Uhr
Herzliche Gratulation
Soo ein schöner Text!