3. Rang: «Tatrot» von Anne Hechenberger

3. Rang: «Tatrot» von Anne Hechenberger
Patrick Gsell 16.08.2022

Tatrot

von Anne Hechenberger

Polizeianwärterin Lara Bader stieg aufgeregt über das rot-weiss-gestreifte Absperrband und nickte den bereits anwesenden Kollegen zu. Ihr erster Tatort! Sie fragte sich, ob es normal war, im Angesicht eines grausamen Verbrechens so freudig-erregt zu sein.

Dann entdeckte sie jedoch ihren Vorgesetzten, Kriminalhauptkommissar Jochen Seiffert, und ging mit federnden Schritten und einer professionellen Miene auf ihn zu. Er stand mit einem zu Tränen aufgelösten Mann im Vorgarten eines gediegenen Einfamilienhauses. Je näher Lara den beiden Männern kam, umso mehr Gesprächsfetzen konnte sie verstehen. „Da drin ist alles voller Blut…“, wiederholte das Gegenüber ihres Chefs immer wieder. 

Sie tippte Seiffert auf die Schulter. „Herr Kommissar, ich bin jetzt da. Man hat mir gesagt, Sie haben die Einsatzleitung. Was soll ich tun?“ Seiffert dreht sich um. Er erinnerte Lara an einen typischen CSU-Landtagsabgeordneten: mittleres Alter, akkurat geschnittene Haare, Hornbrille und Trachtenjanker. Ein Karriererist, der sich nur Fälle rauspickte, die ihn weiterbrachten und der jeden im Team wegen eines noch so kleinen Fehlers zur Schnecke machen konnte. „Sie können gleich bei mir bleiben, das Diktiergerät halten und später den Bericht tippen. Ich versuche gerade, den Ehemann des Opfers soweit zu beruhigen, um eine brauchbare Aussage zu bekommen.“ 

Seiffert zückte ein silberfarbenes Diktiergerät und drückte auf Play. „Uhrzeit: 23.20 Uhr. Ort:  Akazienallee 27, München-Grünwald. Ehemann des Opfers: Schauspieler Georg Schmidl.“ Lara horchte auf. Der hochgewachsene Mann mit den grauen Schläfen war ihr gleich so bekannt vorgekommen. Sie erinnerte sich dunkel, letzte Woche in einem Boulevardmagazin seinen Namen gelesen zu haben. Aber in welchem Zusammenhang? Seiffert riss sie aus ihrem Gedankengang, indem er ihr das Diktiergerät in die Hand drückte. 

„Herr Schmidl, fühlen Sie sich imstande, einige Fragen zu beantworten?“ Der Schauspieler schnäuzte sich. „Sicher.“ „Erzählen Sie, was heute Abend geschehen ist.“ „Ich bin gegen 22.30 Uhr vom Set nach Hause gekommen. Schon beim Betreten des Hauses hatte ich ein mulmiges Gefühl – im ganzen Haus brannte Licht, aber von meiner Frau war nichts zu hören. Normalerweise läuft Musik oder Marianne telefoniert, aber heute… Stille. Ich habe sie gerufen, doch es kam keine Antwort. Dann bin ich die Räume im Erdgeschoss abgelaufen, ohne Erfolg. Und schliesslich im Wohnzimmer… es war so schrecklich.“ Schmidl presste seine Hände vors Gesicht und schluchzte laut auf. „Die Terassentür war offen, einige Gegenstände lagen zerschlagen auf dem Fussboden und dazwischen war alles voller Blut!“ An dieser Stelle hakte Seiffert ein. „Aber von Ihrer Frau fehlte jede Spur?“ Der Schauspieler nickte. „Ich habe das ganze Haus nach ihr abgesucht.“ 

Lara stockte vor Aufregung der Atem. Was war hier geschehen? Eine Entführung? Ein Tötungsdelikt?  Oder ein missglückter Einbruch? In diesem Moment kam ein uniformierter Kollege auf sie zu. „Herr Seiffert, die Presse hat schon Wind von der Sache bekommen und die ersten Journalisten stehen bereits am Absperrband.“ Der Kommissar antwortete: „Niemand gibt ein Statement ab. Ich werde nachher mit den Presseleuten sprechen. Und wir bringen Herrn Schmidl ins Haus, damit ihn niemand in seiner derzeitigen Verfassung fotografieren kann. Dann können wir uns auch gleich den Tatort ansehen.“ 

Während sie ins Haus gingen, dachte Lara: „Deswegen ist Seiffert heute Nacht vor Ort. Der Fall bringt ihm jede Menge Medienrummel.“ Das Wohnzimmer glich einem Schlachtfeld. Zertrümmerte Vasen, zerfetzte Sofakissen und überall Blut. Dass hier ein heftiger Kampf stattgefunden hatte, schien ausser Frage. Seiffert besah sich den Tatort kurz, zückte sein Smartphone und verliess den Raum, um zu telefonieren. Lara war nun allein mit dem Schauspieler, der von Sekunde zu Sekunde verzweifelter wirkte. Sie überlegte, ob sie ihn aufmuntern sollte, besann sich aber ihrer Aufgaben und ging langsam im Wohnzimmer umher, stets darauf bedacht, keine Spuren zu zerstören. Im Bücherschrank lag vor einer Reihe gelber Reclam-Hefte ein Smartphone. „Gehört das Ihrer Frau?“, fragte Lara. Schmidl bejahte. Seine Frau habe die Angewohnheit gehabt, sich ein Buch auszusuchen und das Handy anstelle des Buches in den Schrank zu legen, um in Ruhe lesen zu können. Lara fragte nach dem Pin und wenige Sekunden später durchsuchte sie das Smartphone des Opfers nach Hinweisen. Neben Messengerdienst, Bildergalerie, Zykluskalender und Rezepte-Apps konnte sie nichts Ungewöhnliches entdecken. Sie öffnete ziellos einige Anwendungen, als ihr Chef zurückkam. 

„Herr Schmidl, wir haben ein Problem!“ Der Schauspieler versteifte sich. „Meine Leute haben mir mitgeteilt, dass Sie sich in einem hässlichen Scheidungsprozess mit Ihrer Frau befinden. Sie sollen letzte Woche in einem Interview gesagt haben, dass Ihre Frau Marianne in das Loch zurückkriechen solle, aus dem sie gekommen sei und dass Sie ihr keinen Cent auszahlen werden. Marianne Schmidl hat daraufhin durch einen Anwalt verlauten lassen, dass sie Sie so lange verklagt, bis sie genug Geld habe, um sich einen schönen Lebensabend zu machen. Zudem haben wir bereits herausgefunden, dass Sie Ihr Filmset heute Abend bereits gegen 20.00 Uhr verlassen haben. Herr Schmidl, ich muss Sie hiermit fragen: wo waren Sie zwischen 20.00 Uhr und 22.30 Uhr?“ Lara konnte beobachten, wie dem Schauspieler die Gesichtszüge entglitten. Er wurde kreideweiss und stammelte: „Sie wollen damit doch nicht andeuten, dass ich meine eigene Frau ermordet habe?“ Seiffert zuckte unberührt mit den Schultern. „Sie haben ein starkes Motiv. Also, wo waren Sie?“ Innerhalb von Sekunden durchlebte Schmidl die nächste Transformation. Seine Wangen glühten plötzlich rot und er brüllte: „Diese Hexe! Sie will mich hinhängen! Aber das lasse ich nicht mit mir machen! Und überhaupt – wieso hätte ich dann die Polizei verständigen sollen? So blöd kann doch keiner sein!“ Während er tobte, winkte Seiffert einem uniformierten Kollegen. „Bitte, Steininger, führen Sie Herrn Schmidl ab. Es ist besser, wenn wir auf dem Revier weitersprechen.“ 

Lara, die nach wie vor das Smartphone von Marianne Schmidl in den Händen hielt, sagte plötzlich: „Warten Sie!“ Während sie erneut auf das Gerät tippte, herrschte Seiffert sie an: „Was soll das?“ Lara antwortete: „Ich will Ihnen negative Publicity ersparen. Wenn Herr Schmidl jetzt abgeführt wird, steht das morgen in allen Zeitungen. Wir sollten vorsichtig sein.“ Seiffert wurde eine Spur lauter: „Fräulein Bader, Sie haben heute Ihren ersten Einsatz und sollten eigentlich wissen, wo Ihr Platz ist. Welche Schlussfolgerungen würden Sie denn aus diesem Tatort ziehen?“ „Und wenn Schmidl die Wahrheit sagt?“ Lara sah, wie eine Ader auf der Stirn ihres Chefs zu pulsieren begann. Er brüllte: „Und wo, bitteschön, soll dann dieses ganze Blut herkommen?“ Lara drehte das Smartphone um. Der Kommissar blickte auf den geöffneten Zykluskalender. Zögernd sagte die Polizeianwärterin: „Irgendetwas kam mir an diesem Blut gleich seltsam vor. Marianne Schmidl hat heute den vierten Tag ihrer Periode. Mit einer Periodentasse kann sie genügend Blut auffangen, um hier so eine Sauerei zu machen. Natürlich hätte das die Spurensicherung in ein paar Tagen auch festgestellt, aber da wäre der Schaden für ihren Noch-Ehemann bereits enorm gewesen. Und ich glaube, es gibt kein Gesetz, dass einem verbietet, sein eigenes Haus zu verwüsten und Menstruationsblut darin zu verschmieren.“ Die drei Männer starrten Lara mit offenen Mündern an. Seiffert fing sich als Erster. „Steininger, Sie holen sofort die Spurensicherung, um Frau Baders Theorie zu überprüfen. Melden Sie gleichzeitig Frau Schmidl als vermisst, wir wissen ja nicht, in welchem Zustand sie sich befindet. Und Sie, Herr Schmidl, bleiben erst einmal hier, bis wir den Sachverhalt geklärt haben.“ Damit drehte er sich um und rauschte ohne ein weiteres Wort aus der Tür. 

Mit einem Lächeln steckte Lara das Diktiergerät ein. Morgen würde sie den Bericht tippen. 

 

Drei Fragen an die Autorin

Liebe Anne, herzlichen Glückwunsch zu deinem Text und zum 3. Platz! Sollten Menstruationstassen aufgrund ihres offensichtlichen Missbrauchspotentials besser verboten werden?

Im Sinne der Nachhaltigkeit sollten sie wohl eher noch stärker beworben werden. Da müssen wir das Risiko von Nachahmetäterinnen wohl in Kauf nehmen =)

Das war natürlich nicht ganz ernst gemeint. Hast du auch andere Genres für deinen Text in Erwägung gezogen oder war der Krimi für dich gegeben?

Ich schreibe wahnsinnig gerne Krimis, daher war das Genre für mich von Anfang an gesetzt. Als ich die Ausschreibung gelesen hatte, war ich wie besessen davon, zum Thema "Menstruation" einen spannenden Text zu kreieren.

Wir könnten uns deine Geschichte, etwas ausgeschmückt, gut als Sonntag-Abend-Krimi im Fernsehen vorstellen. Denkst du, das öffentliche Fernsehen wäre schon bereit dazu?

Auf jeden Fall! Zumal mein Titel ja auch eine Hommage an eine grosse Krimi-Reihe des Sonntag-Abend-Programms der öffentlich-rechtlichen Sender ist...

 

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Kommentare

Hugo Berger schrieb am 19.08.2022 um 12:53 Uhr
Schwere Arbeit der Jury
Die Geschichte von Anne (3. Platz) ist ebenfalls hervorragend. An den Auswahlen sieht man, wie schwer die Arbeit der Jury war. Ehrlich gestanden, mir gefällt die Geschichte von Anne fast besser noch als die erst Platzierte.