Die vier Texte zum 4. Rang

Die vier Texte zum 4. Rang
Patrick Gsell 15.08.2022

Diana

von Martina Lang Hartmann

Der Rehbock entfernt sich nicht vom Waldrand. Sie beobachtet ihn, wie er unter den Ästen der mächtigen Eiche in den letzten Strahlen der untergehenden Sonne da und dort von den Wiesenkräutern nascht. Danach legt er sich nahe beim Stamm zum Wiederkäuen nieder. 

Sie entspannt sich. Lässt die Schultern sinken und platziert den Schaft des Gewehres leise zwischen ihren Oberschenkeln auf der Sitzfläche des Hochsitzes, während der Lauf weiterhin auf dem Querbalken vor ihr aufliegt. Sie lauscht dem Abendlied der Amsel und bedauert den Bock. Trauert um ihn, jetzt schon. Sie weiss von seinem baldigen Tod, während seine Welt noch vollkommen ist. Sie wird sein Leben beenden. 

Das Licht schwindet und sie weiss, dass ihr nicht mehr viel Zeit bleibt. Da plötzlich erhebt sich das Reh, sichert und tritt dann gemächlich hinaus auf die Wiese. Friedlich äsend nähert es sich der Stelle, welche sie schon vor seinem Erscheinen als perfekten Platz ausgewählt hat. Sie legt das Gewehr an. Hitze wallt durch ihren Körper, in ihren Ohren rauscht das Blut. Sie zwingt sich zur Ruhe, atmet langsam und tief aus. Sie wird ganz ruhig. Als der Bock ein letztes Mal sichert, krümmt sie den Finger und lässt die Kugel fliegen. 

Sie weiss sofort, dass das Tier tödlich getroffen ist. Dennoch lädt sie nach. Gebannt beobachtet sie seine letzten Atemzüge, sieht ganz genau hin, trägt die volle Verantwortung und die ganze Last der Schuld. Dann erst, als der Bock tot ist, senkt und entlädt sie die Waffe. Der Lebenskreis des Tieres hat sich geschlossen. Leise beginnt sie, eine Melodie zu summen. Es ist ein Schlaflied. So begleitet sie zu Hause jeden Abend ihr Kind in den Schlaf. Dieses Leben, das durch sie geboren wurde, wird in dunklen Stunden von ihr beschützt, umhüllt, gehalten, gestreichelt, gewiegt und besungen. Es ist ihr gegeben, Leben zu schenken und Leben zu nehmen. Blut und Milch. Sie ist Ebbe und Flut, Tag und Nacht, Sonne und Mond. Sie hat ihr leises Singen nicht geplant, aber es scheint ihr passend. Es umhüllt, hält und wiegt tröstend ihre Seelen, die ihre und die des Rehs, und löst gleichzeitig sanft den Bann und die Verbindung zwischen ihnen. Nach und nach beruhigt sich ihr Puls, die Traurigkeit wallt noch einmal auf, aber es gesellen sich Erleichterung und Dankbarkeit hinzu. 

Als sie vom Hochsitz steigt, spürt sie die bekannte, feuchte Wärme in ihrem Schritt. Nicht unerwartet, aber dennoch überraschend. Sie hat keine Zeit, sich darum zu kümmern. Sie bricht einen kleinen Zweig Eichenlaub ab und steckt ihn dem Bock als letzten Bissen in den Äser. Sie setzt sich neben ihn, legt ihm still und etwas schüchtern die Hand auf die Schulter und verharrt einige Atemzüge. Es ist mittlerweile fast ganz dunkel geworden. Dann schultert sie das Tier und macht sich auf den Weg zum Wagen und von dort weiter zum zweckmässig eingerichteten Verarbeitungsraum. 

Jetzt geht es an die rote Arbeit. Der erste Schnitt ist für sie immer der schwierigste, aber er ist unumgänglich. Der Tierkörper muss geöffnet und die Organe entfernt werden. Sie führt das Messer sicher, ruhig und konzentriert. Ihre Hände greifen tief in den Bauchraum des Rehs und färben sich rot. Wie jedes Mal ist sie fasziniert von dieser ansonsten verborgenen Ordnung, welche sich ihr jetzt offenbart. Die Formen sind perfekt aufeinander abgestimmt, wie ein dreidimensionales Puzzle fügt sich im Körper des Tieres alles zusammen. Die Organe sind angenehm anzufassen. Weich und warm. Heimliche, vollkommene Schönheit. Doch sie muss sie entfernen und zerstört dadurch die Harmonie. 

Bald darauf ist die Arbeit erledigt. Das Reh hängt im Kühlschrank. In einigen Tagen werden die letzten Verarbeitungsschritte folgen, und danach wird das Fleisch sie und die Ihren für lange Zeit satt machen. Sie reinigt den gekachelten Raum, das verwendete Werkzeug und ihre Hände. 

Zu Hause schlüpft sie aus ihren Kleidern. Sie säubert sich von ihrem eigenen Blut von Schritt und Schenkeln und von übersehenen Blutstropfen des Rehs von den Unterarmen und dem Gesicht. Sie spürt die müden Muskeln, ihren Herzschlag und die Wärme ihres lebendigen Körpers. Was sie beim Tier gesehen und mit ihren Fingern berührt hat, ist auch in ihrem eigenen Innern verborgen. Sie weiss um die Schönheit ihres Leibes, welcher sich nur oberflächlich von dem des Rehs unterscheidet. Sie kennt die zarte Elastizität ihrer Leber, das feste Gewebe ihres Herzmuskels, die sanfte Wärme des Blutes. Heute hat sie den Tod gebracht. Wie sie auch schon Leben geschenkt hat. Blut und Milch. Sie ist Ebbe und Flut, Tag und Nacht, Sonne und Mond. 

 

Glück im Unglück

von Tatjana Kruse

„Nein, ich kauf dir keine Tampons. Warte bis die Müller kommt, die kann das übernehmen. Ich hab hier Wichtigeres zu tun.“

Bei manchen Menschen fragt man sich sein Leben lang, was wohl wäre, wenn man sie einfach bei nächster Gelegenheit mit dem Dienstwagen überfahren würde. Kollege Siebenschön war so ein Mensch. 

Aber dann müsste ich eigentlich erst sämtliche Entscheider auf politischer Ebene umnieten, die es bis heute nicht geschafft haben, dass auf jeder Damentoilette grundsätzlich ein Automat mit dem Nötigsten an Hygieneartikeln zu stehen hat.

So stehe jetzt nur ich. Und zwar breitbeinig. Über der Kloschüssel, in die ich heftigst hineinblute. Nicht in einem stetigen Strom, sondern in fetten Schleimpfropfen, die alle paar Minuten mit einem lauten Schmatzen auf das Porzellan treffen. 

„Idiot!“, fauche ich in mein Handy, obwohl Siebenschön meinen Anruf längst weggedrückt hat.

Ehrlich jetzt, Kollege Siebenschön ist nicht alt genug, um peinlich berührt zu sein, wenn er in der Drogerie – die übrigens direkt um die Ecke vom Tatort liegt, keine hundert Schritte entfernt – mal eben schnell Notfall-Tampons für seine überraschend ausblutende Kollegin holen soll. Und er hat auch nichts Wichtigeres zu tun. Solange die Spurensicherung noch mit der Tatortsicherung beschäftigt ist, darf er ohnehin nicht an die Leiche ran. Und der einzige Zeuge, den es für den Mord gibt, sitzt traumatisiert im Rettungswagen und hyperventiliert sich gerade in den völligen Sauerstoffmangel und kann demzufolge nicht befragt werden. Menstruationsphobiker Siebenschön hätte also noch und nöcher Zeit, mir beizustehen. 

Ich bin halt nicht auf Pille, bei mir kommen die Tage auch mal ungeplant. Und ein, zweimal im Jahr blute ich nicht nur, es eruptiert aus mir heraus wie Magma aus einem Vulkan. Doch das interessiert Siebenschön nicht. Er ist und bleibt die Stradivari unter den Arschgeigen.

Ich atme genervt aus. Eigentlich ärgere ich mich auch über mich selbst – ich habe sonst immer Tampons dabei. Nur heute nicht. Weil mich die Einsatzzentrale heute früh um fünf nicht aus meinem eigenen Bett geklingelt hatte, sondern aus … aber ist ja auch egal. Jedenfalls habe ich nichts dabei und stecke jetzt in der Klemme.

Ich tröste mich mit dem Gedanken, dass es bestimmt nicht mehr lange dauern wird. Wenn die grössten Schleimbrocken erstmal draussen sind, kann ich mich mit einer halben Rolle Toilettenpapier behelfen, die mich – zu einer Ersatz-Notfallbinde gefaltet – zur Drogerie und wieder zurückbringt.

Ich gehe ein paar Mal ruckartig in die Knie. Wäre doch gelacht, wenn ich und die Schwerkraft das nicht hinkriegen würde. 

Platsch!

Während ein weiterer Blutpfropf ins Klo plumpst, meine ich, ein Geräusch zu hören. Hat da wer die Damentoilette betreten? Ich lege den Kopf schräg und lausche.

Aber nein – das, was ich da höre, kommt von oben.

Ich lege den Kopf in den Nacken. 

Deckenplatten mit leicht angeschimmelten Fugen. Mit der Sauberkeit haben die es hier nicht so – es hat einen Grund, warum ich stehe, nicht sitze. Von einem Versicherungsbüro würde man eigentlich mehr erwarten. Ich würde gern den Leiter des Büros auf diese Hygienenachlässigkeit aufmerksam machen, aber der liegt ja tot in seinem Büro. 

Putzmann Dragan Poljanski hat ihn bei Antritt seiner Schicht gefunden. Deswegen sitzt er jetzt atemlos im Rettungswagen, wenn auch nicht in Helene-Fischer-Atemlosigkeit, sondern im Sinne von Ich-habe-meine-erste-Leiche-gesehen-aus-deren-Kopf-Gehirnmasse-quillt. Es sieht halt nicht schön aus, wenn einem mit einer grosskalibrigen Waffe der halbe Schädel weggepustet wird.

Ich wackele mit den Hüften. Viel kann doch jetzt nicht mehr kommen, denke ich, die Kloschüssel sieht ja jetzt schon blutiger aus als der Tatort – und das will was heissen.

Da höre ich das Geräusch wieder. 

Es ist ein Schaben.

Mir scheint, es kommt von dem Lüftungsgitter weiter links. Ob die hier Ratten haben? Auszuschliessen ist es nicht. Wir sind hier im Erdgeschoss. Und das Viertel liegt in Hafennähe. Eine übel beleumdete Gegend. 

Es schabt erneut.

Hm.

Klingt nicht nach Ratte.

Ich steige lautlos auf die Kloschüssel. Was eigentlich kein Akt ist. Aber ich will mir die Jeans nicht einsauen, darum verbiege ich mich wie ein Schlangenmensch. Mit der Nummer könnte ich im Zirkus auftreten.

Die Kubus-Wände schliessen nicht mit der Decke ab. Als ich es geschafft habe, kann ich durch den Zwischenraum ungehindert auf das Gitter schauen. 

Das sich bewegt.

Etwas fällt metallisch scheppernd auf den Fliesenboden. Es klingt, als sei eine Schraube von der anderen Seite des Gitters herausgedreht worden und nach unten gefallen.

Sowas machen Ratten nicht. Zumindest keine vierbeinigen. Ich ziehe meine Waffe.

Es bleibt keine Zeit mehr, Kollege Siebenschön per Textnachricht zu verständigen, denn jetzt fällt das komplette Gitter des Lüftungsschachts zu Boden.

Das verursacht natürlich einen Heidenlärm, aber das hört keiner, denn im Gegensatz zum Herrenklo liegt die Damentoilette am Ende eines endlos langen Korridors, der zur Hintertür und zu den Mülltonnen führt. 

Wir hatten uns schon gefragt, ob Dragan der Täter sein könnte. Zumal nicht er den Notruf gewählt hatte, sondern ein Hafenarbeiter, der den Schuss gehört hatte. Die Leiche zu Füssen des angsterstarrten Dragan war noch körperwarm, als wir eintrafen. Aber jetzt denke ich, dass Dragan den wahren Täter überrascht haben musste. Woraufhin der sich an den einzigen Ort verkroch, zu dem er vom Büro des Toten aus Zugang hatte – dem Lüftungsschacht. 

Ich ducke mich. Gerade noch rechtzeitig. 

Jemand klettert aus dem Schacht. Aus den Geräuschen schliesse ich, dass er sich bückt, um zu prüfen, ob in einem der drei Klo-Kuben Frauenbeine zu sehen sind. Ich stelle mir vor, wie er sich beruhigt wieder aufrichtet. Dann geht er in Richtung Ausgang. 

Das ist jetzt ein Moment der Entscheidung. 

Ich steige so lautlos wie möglich vom Klo und ziehe dabei meine Jeans hoch. Das wird unübersehbare Folgen haben, aber die sind mir jetzt egal.

Ich lausche auf seine Schritte. Als er auf Höhe meiner Kubustür angekommen ist, stürme ich heraus. Mit Hilfe des Überraschungsmoments kann ich ihn mit einem gezielten Handkantenschlag gegen die Schläfe ausknocken.

Die Wucht des Schlages katapultiert ihn zur Seite, er schlägt mit dem Kopf unschön auf dem Rand eines der beiden Waschbecken auf. Als er auf dem Fliesenboden ankommt, blutet seine Kopfwunde wie verrückt. Das haben Kopfwunden so an sich. Aber der Kerl ist kantig und sieht aus, als würde er das locker wegstecken. 

Ich knie mich neben ihn und lege ihm Handschellen an. Dann stehe ich auf, öffne die Tür zum Flur und brülle: „Siebenschön, ich habe den Mörder!“

Tja, man muss einfach nur zur rechten Zeit am rechten Ort sein. Das wird Siebenschön fuchsen. Und ich kann es kaum erwarten, seinen Gesichtsausdruck zu sehen, wenn ich ihm erkläre, dass das Blut auf meiner Hose mitnichten das des Mörders ist... 

 

Jedes Haus erzählt eine Geschichte

von Simone Vogel

Egal wie viel du aufräumst, putzt und reine machst. Geschichten kannst du nicht wegwischen. Sie liegen überall. Wie tote Fliegen auf der Fensterbank. Und sie erzählen stumm, ohne dass ein einziger Mensch etwas sagt.

Seit einer Woche sind wir in Dänemark und suchen ein Haus. In Südjütland gibt es Häuser wie Treibholz am Meer. Grosse und kleine, ganze und zerbrochene, für jeden was Passendes dabei. Ein richtiges Zuhause dagegen ist ein seltener Fund. Es ist mehr als ein Haus. Etwas, das du nicht alle Tage findest. „Du kaufst es mit diese hier“, sagte der Makler gestern und legte seine rechte Hand aufs Herz. Sie sprechen hier fast alle Deutsch und verstehen ihr Handwerk. Die Vorteile hervorheben, die Nachteile sind Chancen. Perfekte Möglichkeiten, die eigenen Träume zu verwirklichen. Klingt schöner als Renovierungsstau. Weniger herzlos.

Wir haben sieben Häuser in einer Woche besichtigt. Ziehen jedes Mal unsere Schuhe aus, obwohl die Makler uns rote Hüllen aus Plastik anbieten. Ich gehe lieber in Socken über die Böden, die uns in Zukunft tragen könnten. Fühle mich langsam von Raum zu Raum. Die Bewohner sind immer ausgeflogen. Nur eine schwarze Katze wurde Zeugin unseres Rundgangs im vorletzten Haus. Mucksmäuschenstill schlummerte sie auf dem gemachten Bett und ich hielt sie zuerst für ein Kissen. Doch den Adleraugen meines Sohnes entgeht nichts. Er scannt sich forschend von Raum zu Raum.

„Warum Dänemark?“, fragen uns die Makler und wir antworten vage. Mehr barfuss am Strand Gehen, mehr Freiheit. Leben und leben lassen statt deutscher Gründlichkeit. Mehr Hygge, was Neues, ein Abenteuer. Verständnisvolle Blicke und Zustimmung. Wir sind nicht die Einzigen, die hier ein neues Zuhause suchen. Die Nachfrage ist gross.

Am späten Vormittag betreten wir ein Backsteinhaus in Hanglage. Geduckt huschen wir durch leichten Nieselregen vorbei an einem Briefkasten, auf dem vier Namen kleben. Björn, Helene, Leif und Kent leben hier. Am Rande dieser Kleinstadt, den Wald vor der Haustür, im Regen.

Es empfängt uns der süsse Duft von Apfelkuchen. Er hüllt uns ein wie eine Decke. So riecht ein Zuhause. Gelbe Narzissen auf der Fensterbank, die Gummistiefel im Garten und drüben bei den Hecken ein verlassener Traktor. Fröhlich zupft mein Sohn mich am Ärmel, will mir zeigen, was er entdeckt hat. „Ein Kletterbaum, Mama, schau, da!“ Ich sehe mich um und verteile unsere Möbel in diesem Raum. Das Bücherregal und die Brettspiele, den Benjamini und das Sofa. Und überall der Apfelkuchen, hier lässt sich`s leben.

„The parents are getting divorced, that's the reason for the sale,“ dringt die Stimme der Maklerin an mein Ohr. Sie schämt sich für ihr Deutsch und redet lieber Englisch mit meinem Mann. Und während ihre Worte in meinem Hirn übersetzt werden, verstärkt sich der Regen. Im Garten haben sich riesige Pfützen gebildet. Mein Blick fällt auf eine graue Wolldecke, die zusammengefaltet auf der Couch liegt. Kühl ist es hier drin, unter den hohen Decken und ich beginne an den Füssen zu frieren. Kein einziger Teppich in diesem Raum.

Wir erfahren, dass der Ofen nicht mehr den gängigen Sicherheitsvorschriften genügt. Er muss erneuert werden. Prüfend sieht sich mein Mann das Rohr an. Alles machbar, verspricht die Maklerin, kein Problem. Mir fällt auf, dass kleine Wasserlachen auf dem Wintergarten stehen. Das Parkett sieht feucht aus, dort am Rand. Es hat sich dunkel verfärbt und quillt an den Stellen auf, an denen die Glasfront auf den Fussboden trifft. Mir ist kalt und ich rieche den Kuchen nicht mehr.

Wir gehen weiter zu den restlichen Zimmern. Vorbei an drei Paar Schuhen auf der Matte im Flur. Mutter, Kind, Kind und die Windeln im Schlafzimmer. Eine Füchsin in ihrer Höhle. Zweimal Kinderbettzeug und einmal normal. Mama in der Mitte, die wärmt zu beiden Seiten. Der Kleine schläft im Beistellbett, sein Schnuller und das Märchenbuch liegen auf der Fensterbank. Wir betreten einen leeren Raum, dessen Wände den Klang unserer Schritte zurückwerfen. Keine Bilder an der Wand, nirgends Fotos. Wer hier lebte, hat seine sieben Sachen längst gepackt. Der isst nicht mehr mit, wenn der Kuchen heute Mittag verteilt wird. Im Hintergrund erzählt die Maklerin, welche Renovierungsarbeiten noch getan werden sollten. Der Hausherr hatte begonnen, doch dann kam die Trennung. Fehlende Randleisten und abgebrochene Träume. Matsch, wohin das Auge blickt und ein kaputter Ofen.

Im Keller ein Hobbyraum, der als Tonstudio genutzt wurde. Boxen und Verstärker, Regler und Kabel, kantige Umrisse unter alten Laken. Rumpelkammer und Holzwerkstatt, viel Platz, um sich selbst zu verwirklichen. Beim Blick aus dem Fenster fällt uns ein dünnes Rinnsal auf. Unter einem Leck in der Regenrinne hat sich eine grosse Pfütze gebildet. Die undichte Stelle holt mich zurück in die Wirklichkeit. Ich bin am Zyklustag zwei und habe seit Stunden kein Klo mehr gesehen. „Auslaufen“ und „Pfützen bilden“ sind die Stichworte, die mich höflich fragen lassen, ob ich das Bad benutzen darf. „Yes, of course“, lächelt die Maklerin und stöckelt zielstrebig voraus.

Zwei Zahnbürsten in einem Becher, plus die elektrische, macht drei. Helene putzt ihren Kindern die Zähne, sie bringt sie ins Bett, liest eine Gute-Nacht-Geschichte und reicht den Schnuller. Was erzählt sie, wenn sie fragen, ob Papa wieder kommt? Ein roter Fleck in meiner Unterhose stoppt meine Überlegungen. Ich laufe aus und mein Rucksack liegt im Auto, suchend taste ich meine Taschen ab und finde nichts. So was Blödes. Darf ich in fremden Bädern Schränke öffnen? Was, wenn etwas runterfällt und dabei kaputt geht? Ist es Diebstahl sich an den Tampons einer fremden Frau zu bedienen? In Zeitlupe öffne ich einen kleinen Spiegelschrank neben der Dusche. Sehe Cremetuben, Zahnseide und ein Deo, Kamillenshampoo für die Kinder und Schminkzeug. Ganz oben im Eck, ein angebrochenes Päckchen Tampons. Ich stelle mich auf Zehenspitzen, um einen herauszufischen, atme aus und lasse meine Schultern sinken.

„Danke Helene!“, flüstere ich und umschliesse den Tampon mit der ganzen Hand. Ich stelle mir vor, wie du heute Morgen diesen Kuchen gebacken und dem Jüngsten die Windeln gewechselt hast. Du hast die Narzissen in neues Wasser gestellt und dabei dem Grossen zugerufen, dass er sich weiter anziehen soll, während ich mich ausziehe. Ich sehe dich, wie du den Windelsack noch schnell zum Mülleimer trägst und eine Runde durchsaugst. „Die Autos zurück in die Box“, rufst du, während ich deinen Tampon einführe. Ich sehe dich, wie du heute Abend hundemüde im Wohnzimmer sitzt, eingehüllt in deine Decke und einen letzten Hauch Apfelkuchen. Ich sehe dich, liebe Schwester, in diesem Haus, mit den Pfützen im Garten, dem kaputten Ofen und dem Loch in der Regenrinne. Aus dem die Träume rauslaufen und hässliche Flecken machen.

 

Regenschauer

von Kora Busch

„Ham’ Sie mal ‘nen Euro?“

 Das Gesicht des Mannes ist so unfreundlich wie das Wetter, aber sie hat sich an solche Gesichter längst gewöhnt, auch wenn sie sich immer noch ein wenig darüber wundert, dass selbst die feinen Leute in Kostüm und Anzug, die in schicken Appartements leben, so trübe aussehen wie ein verschlammter Gartenteich. Immerhin bleibt er stehen, einer unter Aberdutzenden, denen sie seit einer halben Stunde ihr Sprüchlein aufsagt. „Wenn du was zu Essen brauchst: Ich kann dir ein Brötchen kaufen.“ Er deutet zur Bäckerei, vor der sich eine Gruppe junger Leute in ihrem Alter die Hände an dampfenden Pappbechern aufwärmt.

„Nein, danke, aber ich brauche das Geld für Tampons. Ich habe meine Tage.“ Dabei lächelt sie ihn gewollt schüchtern an und wegen der kalten Luft glühen ihre Wangen rot. Dennoch fühlt sie keine Beklommenheit mehr, denn die ertränkt sie jeden Morgen in ein paar Dosen Radler.

„Aha“, er greift schnell in seine Sakkotasche, drückt ihr fünfzig Cent in die Hand und entschwindet. Sie steckt das Geld ein, während sie schon den nächsten Passanten anspricht. Am Anfang, also vor etwa zwei Jahren, dachte sie noch lange darüber nach, wen sie um Geld fragen soll, wer freundlich genug und freigiebig wirkt. Aber entweder besitzt sie keine Menschenkenntnis oder man kann es den Leuten eben nicht am Gesicht ablesen, wie sie reagieren werden. Wenige geben ihr einfach so Geld in die Hand, weil die Leute automatisch davon ausgehen, dass sie es in Drogen investieren wird (was oft auch den Tatsachen entspricht); dabei möchte sie nicht wissen, wie viele von diesen Bankheinis sich regelmässig dazu entschliessen, ihr Gehalt in Koks und Microdosing zu investieren, um dadurch ihre Arbeitsleistung aufzuputschen. Häufiger als ihren Leidensgenossen will man ihr ein belegtes Brötchen, einen heissen Kaffee oder eine Tüte Pommes spendieren, wozu ihr wohl ihr junges Aussehen verhilft. Die Leute halten sie immer noch für einen minderjährigen Teenager, mit dem man doch ein wenig Mitleid empfindet. Die Mehrheit schenkt ihr allerdings überhaupt keine Beachtung, läuft stumpfsinnig an ihr vorbei, als sei sie unsichtbar. Wenn man sie nicht beachtet, ist sie gar nicht wirklich da. Früher, als sie noch zuhause lebte, hätte sie viel darum gegeben, unsichtbar zu sein. Der Wind wirbelt Blätter um ihre Beine, bricht kleine Zweige von den eingezäunten Bäumen und bläst achtlos entsorgten Plastikmüll über den Platz. Bei so einem Wetter ist es besonders schwierig, die Passanten dazu zu bringen, wegen ihr stehenzubleiben, denn in deren Kosmos ist sie so brauchbar wie diese zerrissene Plastiktüte, die sich in einer Radspeiche verheddert hat.

Vierzehn weitere Personen, bis eine Frau kurz innehält, in der Geldbörse kramt und ihr schliesslich ein paar Kupfermünzen in die Hand drückt. Kleingeld wiegt so schwer und die grossen Scheine sind federleicht, so wie das Leben mit Kleingeld viel schwerer wiegt, stellt sie fest, als ihr der erste Tropfen auf die eisige Nase fällt. Die Leute ziehen sich die Krägen hoch oder spannen ihre Schirme auf, wohingegen sie noch nicht einmal eine Mütze hat, weil jemand die ihr heute Nacht geklaut hat. In den löchrigen Jackentaschen reibt sie die Finger aneinander und klimpert dabei mit den Münzen. Sie versucht, sich unter dem Vordach eines Kaufhauses unterzustellen, doch diese Idee haben auch die anderen, sodass sie noch hinten gedrängt wird. Plötzlich ist sie umgeben von den Leuten, die sonst den Abstand zwischen ihr und ihnen möglichst gross belassen wollen. Für wenige Minuten, bis sich die dunkelgrauen Wolken verzogen haben, ist sie einfach ein Teil von etwas; dann löst sich die Menge langsam auf, sie bleibt zurück, zählt ihr Geld, das nicht einmal für Tabak und Hülsen reicht, ganz zu schweigen von der Packung Tampons, die sie heute zum Glück nicht braucht, weil sie ihre Periode erst letzte Woche hatte. Aber es ist einfacher, nach Geld für Tampons zu fragen, denn ein Tampon hat ihr noch nie jemand in die Hand gedrückt, wogegen sie die unzähligen belegten Brötchen, meistens mit Salami, die sie als Vegetarierin an einen Hund verfüttern muss, nicht mehr sehen mag. 

 

Und jetzt du! Welcher Text hat dir besonders gefallen? Schreib uns in den Kommentaren.

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Kommentare

Detlef Seydel schrieb am 19.08.2022 um 14:55 Uhr
Talentvoll
„Glück im Unglück“ zeigt eine talentierte Autorin. Humorvoll und ideenreich. Man kann ihr nur sanftere Menstruationsausbüche, als die ihrer Protagonistin wünschen.
Sabine H. schrieb am 19.08.2022 um 11:58 Uhr
Alle gut!
Mir gefällt vor allem Regenschauer auch wenn es traurig ist. Aber es ist realistisch.